UNTER DIE HAUT

RITA DE MUYNCK UND DIE KUNST DES ARCHAISCHEN

 

Städtischen Galerie, Überlingen

Eröffnungsrede von Dr. Elmar Zorn bei der Vernissage in der am Donnerstag, 17.07.2014

 

Meine Damen und Herren,

 

der Gang durch die Themenkomplexe dieser Ausstellung der Malerei, Installationen und Zeichnungen von Rita De Muynck in der Gegenüberstellung der eigenen Sammlung archaischer und totemistischer Objekte aus 7000 Jahren, als einer Zusammenschau eines 20-jährigen künstlerischen und geistigen Ringens, destilliert visuelle Archetypen durch die Kulturgeschichte der Menschheit, wie sie im Märchen, im Kult, in den Idolfiguren uralter Stammeskulturen, wie sie im Traum der Menschen aufscheinen und wie sie ihr ganz und gar nicht marginales Zusammenleben mit den Tieren prägen.

 

Der erste Themenkomplex ist den kleinen Kreaturen gewidmet, den Fatschen-Kindern, wie sie sich befreien und hochsteigen, wie sie in der Befreiung ihre Rollen einnehmen, „kleine Rächer“ im Guten und Bösen.

Im Mittelpunkt des zweiten Themenkomplexes steht eindrucksvoll und übermächtig die Vorstellung von der Fragmentierung von Körpern, von ihrer „Zerfetzung“, ein in schamanischer Weltsicht notwendiger Prozess, um vom Jugendlichen zum Erwachsenen zu werden, eine Initiation also, weil nach dem In-Stücke-Reißen eine neue Zusammensetzung entsteht. Es ist dies der Themenkomplex der den Zyklus vom Rotkäppchen bestimmt, wie er in der Ausstellung in der Galerie Walz gezeigt wird: die Großmutter, also die große Mutter sowie Rotkäppchen, werden vom Wolf zerrissen, kommen unversehrt wieder aus seinem Bauch und stehen dann auf einer anderen Bewusstseinsstufe.

Ein weiterer Themenkomplex stellt die Fatschen-Kinder den mediterranen Göttinnen-Figuren, den Idolen gegenüber, so wie einem Fetisch aus dem Kongo, der noch seine Medizin in sich trägt, insofern noch wirksam ist mit seinem Zauber.

Im folgenden Raum, in der Galerieerweiterung, dominieren drei farbige Wände. (…)

Auf der großen Wand ist mit dem Text von Giordano Bruno, -1584 in Venedig geschrieben-, das geistige Zentrum dieser Ausstellung, aber auch des Schaffens von Rita de Muynck bezeichnet. Der Titel „Il y a Trois Jours“ greift eine Redenart aus Afrika auf, in der mit drei Tagen auch eine längst vergangene Zeitspanne gemeint sein kann - Insofern eine Poetisierung des Zeitbegriffs im Gegensatz zum Präzisionswahn üblicher Zeitmessung durch Atomuhren. Was dieser große Philosoph über das Zusammenwirken und Innewohnen von allen Teilen im unendlichen Universum aussagt und wofür er auf dem Scheiterhaufen starb, ist nicht nur das noch heute gültige Credo von Physik und Biologie, sondern öffnet den Blick zum Makro- und Mikrokosmos der Multiversen, wie wir sie in den rasend fortschreitenden Erkenntnissen der Quantenphysik mit ihren x-Dimensionen erleben, wie sie aber längst eingefangen und ausgedrückt sind in den Darstellungen und Gedanken von 7000 Jahren Kulturgeschichte.

 

In einem weiteren Themenkomplex geht es um die Maske, auch diese eine Konstante in der Menschheitsgeschichte, von den männlichen und weiblichen Initiationsmasken bis zur Gasmaske. Das Weggehen von der Erde – ein Motiv.das schon in den 1920-er Jahren auftauchte - wie in Edgar Ende Malerei, etwa in dem visionären Werk „Die Natur verlässt die Erde“, oder der Versuch sich doch noch der Erde anzupassen, sind von der Künstlerin radikal in den Bildern der Gasmasken als einer neuen Medizin gefasst.

Auf der taubenblauen Wand ist das große Triptychon „Himmel der Kühe“ angebracht, ein Hauptwerk im Schaffen von Rita De Muynck. Rechts „Kuh & Kälbchen“: es ruft das beginnende Leben auf und prangert im Entstehungsjahr 1995 die damals bekannt gewordenen schrecklichen Tiertransporte an. In dem Werk, das wir in der Mitte sehen, von 2001, ist die dramatische Zerstückelung der Kühe zur Zeit der BSE-Seuche vorgeführt, als 1,3 Millionen Kühe getötet wurden – von der Künstlerin in ihrer empathisch-animistischen Auffassung als alle in den Himmel, eben den Himmel der Kühe aufgenommen, imaginiert sind. Links die „Wutkuh“, ihr Schrei ein animalischer Protest gegen die perverse Handhabung der Subventionspraxis der Prämienzahlung für jedes frischgeborene Kälbchen, das bei Nachweis seiner Existenz auch gleich getötet wurde.

 

Hinweisen möchte ich auf die Fleischbilder, die auf archaische Grabwächterfiguren treffen, auf die Thematisierung eines ganz anderen Schönheitsbegriffes, nämlich der Schönheit unter der nackten Haut. Nackte Haut muss ja sonst immer für die Schönheit des ganzen Körpers herhalten, vergöttert als der schöne Schein – ein substanzloses Idol also, das von dem Zeichner Roland Topor einmal in einer beißend satirischen Bilderserie als Striptease einer nackten Frau vorgeführt wurde, die sich weiter auszieht, bis aufs Skelett.

Bei der Gegenüberstellung der Arbeit „Im Wald“ und einer Antilopen-Maske aus der Sammlung Rita De Muynck-Rüdiger Ullrich klingt die Vorstellung der Vereinigung von Tier und Mensch an, wie dies von Geheimbünden praktiziert wurde und meint den Mythos vom Austausch von Mensch und Tier, wie Christa Sütterlin dies im Hirmer-Katalogbuch einleuchtend dargelegt hat.

Wenn Rotkäppchens Niederkunft mit einem als Wolf erkennbarem Baby im Bauch mit einer Voodoofigur konfrontiert ist, wird deutlich, was natürlich die Galerie Walz Kunsthandel ohne die archaischen Sammlungsstücke bei ihrer Aufbereitung des Themas nicht illustrieren konnte: dass nämlich einen Typenhorizont immer wiederkehrender Urgestaltungen über die Jahrtausende hinweg aufgespannt werden kann und so ganz andere Einsichten in den kollektiven inneren Bilderschatz der Menschheit vermittelbar wird.

 

Es kann nicht auf alle Motive und Installationen der Künstlerin und auf alle faszinierenden Sammlungsstücke in dieser Ausstellung eingegangen werden, leider auch nicht auf ihre hinreißenden Zeichnungsserien „Tag- & Nachtzeichnungen“, die aber Thomas Zacharias im Buch tiefsinnig und in der notwendigen Ausführlichkeit gedeutet hat. Also unbedingt nachlesen! Ich kann mich hier auch nicht mit der vermeintlichen Nähe von Rita De Muyncks Farbexplosionen aus der Leinwand mit der Malerei von Karel Appel, Asger Jorn, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner bis hin zu Willem de Kooning und zum Kollektiv Herzogstraße befassen, weil weit ausgeholt werden müsste. Denn obwohl alle diese Maler bzw. Malergruppen von Rita De Muynck hoch geschätzt sind, führt sie einen völlig anderen und ganz eigenen Duktus in ihre Malerei ein, was mir so evident scheint, dass die Frage eines nachexpressionistischen Epigonentum sich nicht stellt. Zu ihrem Werk haben, auch was ihren vulkanischen Expressionismus angeht, so kluge und wortstarke Persönlichkeiten wie Christa Sütterlin und Thomas Zacharias ihre Meinungen abgegeben, im erwähnten umfassenden und hervorragenden Katalogbuch, das von der New Yorkerin Andrea Theil herausgegeben wurde, auch Andreas Kühne hat in der Süddeutschen Zeitung auf die enorme Qualität ihrer Malerei hingewiesen. Eigentlich aber bräuchte die Kunst – und damit auch die Wissenschaft – von Rita De Muynck keine Erläuterungen, denn diese Ausdrucksgewalt erklärt sich selbst .

 

 

Mir kommt es heute auf einen anderen, eher allgemeinen Aspekt ihrer Kunst an, den ich in der Präsentation ihres Werkes entdecke. Ich sehe in ihrem Schaffen und damit auch in dieser Ausstellung ein Bollwerk, also eine Waffe, die die Künstlerin und mit ihr die Kombattanten, zu denen ich mich gerne zählen möchte, nutzen müssen im Kampf gegen „anything goes“ eines sich zunehmend selbst abschaffenden Kunstbetriebs heute, der längst die Standards eines humanistischen Menschenbildes zurück gelassen hat.

Aus welchen Ursprüngen und Quellen sich dieses Menschenbild gespeist hat in unserer Kulturgeschichte der letzten 7000 Jahre, wie wir umgehen mit der Kreatur, mit Mensch und mit Tier als Exponenten der Natura naturans, der immer wieder aus sich heraus schaffenden Natur, mit ihrem Zauber, ihren Klängen, im Guten wie im Bösen, das entscheidet über das Fortbestehen der Kreatur.

 

Seit langem wissen wir, dass die Zerstörung der Natur, die ja auch wir selber sind, kurz vor dem gefährlichen point of no return steht. Viele Künstler wissen es und viele Wissenschaftler handeln, oft in Allianzen von Kunst und Wissenschaft, und ergreifen eine Rolle des Künstlers, die vor 18 Jahren einmal ein weiser Mann im Kunstmusem Bonn  beschrieben und gefordert hat: Simon Peres – einer der wenigen in Israel, der die Maßstäbe noch aufrecht zu erhalten weiß. Er sprach vom Künstler als dem Experten der Zukunft. Nicht mehr die Experten im üblichen Sinne seien gefordert, weil sie nur aus der Vergangenheit hochrechnen könnten, sondern solche, die aus der Vergangenheit ihre Visionen in die Zukunft zu projizieren in der Lage seien: die Künstler.

Und diese in die Zukunft gerichtete Rückbindung von Rita de Munycks Werks in die Vergangenheit von Natur und Kultur entspricht exakt einer solchen Forderung, wie sie Peres anstellte.

Nicht die Oberfläche bzw. Oberflächlichkeit des Lifestyle-Kunstbetriebs haben insofern noch Wichtigkeit bei diesem existentiellen Kunstkampf, sondern was unter der Haut liegt, die sublying structures. Ihre Freilegung ermöglichen uns neue Synapsen, kreative Verbindungen und Zugänge für neues Handeln. Der berühmteste Gang zurück, Orpheus` Gang in die Unterwelt, ebenso wie Heinrich von Ofterdingens Gang in das Innere des Bergwerks bei Novalis, die Kunstinitiative um den Vesuv „Scavare il Futuro“ (die Zukunft ausgraben) führen zur Neubewertung einer vergessenen Kultur. Die zur Zeit in den alten Trojanischen Märkten in Rom laufende Ausstellung der Zeichnungen und Skulpturen des Giacometti-Schülers Rudi Wach über die unter der Haut verborgenen unglaublichen Kraftfelder des Tier- Menschen und schließlich die provokanten Entblößungen der Pussy Riots in Rußland: dies alles sind künstlerische Befreiungen, die aus dem Untergrund erfolgen – vom kulturellen Establishment weitgehend ignoriert und bekämpft, um die Hypes nicht zu gefährden, die vom Kunstmarkt und dessen Adepten gesetzt werden.

Es ist bezeichnend für die Situation, dass eine Künstlerin, die inmitten des Blauen Landes der Blauen Reiter Marc und Kandinsky ihre große Ausstellung nicht in der erst einmal diesbezüglich zuständigen Städtischen Galerie im Lenbachhaus zeigt, sondern in der Städtischen Galerie in Überlingen und der Galerie Walz. Es ist aber folgerichtig, nicht  nur wegen des hohen Niveaus des Ausstellungsprogramms dieser beiden Galerien, sondern auch der Treue wegen, die die Stadt Überlingen Rita de Muynck über viele Jahre entgegengebracht hat. Schließlich geht es darum, dass das Wissen und die Bilder, über die wir Alten verfügen, weitergegeben werden an die Jungen. Dafür sind die beiden Orte in Überlingen ein hervorragendes Forum, und Rita de Muynck liefert mit ihrem Parcours einen so gescheiten wie kompetenten, auch vergnüglichen Masterplan zukünftigen Handelns durch ihr Werk, das zauberhaft ist im doppelten Sinn.

 

 

Ich danke Ihnen! Elmar Zorn

____________

 

item1